Einschätzungen zu Extinction Rebellion

Eine interessante Webseite zum Thema “Resilienz” resilience.org möchte “die Widerstandsfähigkeit der Gemeinschaft stärken, angesichts einer Welt mit zahlreichen neuen Herausforderungen, wie dem Rückgang billiger Energie, der Erschöpfung kritischer Ressourcen wie Wasser, komplexen Umweltkrisen wie dem Klimawandel und dem Verlust der biologischen Vielfalt sowie den damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Problemen.” Dort gibt es eine Vielzahl von Artikeln und sogar einen (insgesamt vierstündigen) Online-Kurs “Think resilience”, der vom Post Carbon Institut angeboten wird.

Auf resilience.org geht der Autor Paul Arbair auf das BBC Interview von Roger Hallam ein – zunächst auf Hallams Hauptaussage in diesem Interview: dass wir laut (Klima-) Wissenschaftlern auf eine Katastrophe zusteuern, wenn sich die Struktur der Weltwirtschaft in den nächsten zehn Jahren nicht grundlegend ändert, da andernfalls der Zusammenbruch des Klimas die Gesellschaften destabilisiere und den sozialen Kollaps auslöst. Durch Kämpfe und Hunger könnten bis zu sechs Milliarden Menschen in den nächsten zehn Jahren sterben, so Hallam.

Dazu Arbair: „… die Behauptungen von Roger Hallam beruhen nicht auf klimawissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie basieren auf Extrapolationen und Interpretationen, die als solche nicht zum „klimawissenschaftlichen Konsens“ gehören. Die von Klimaforschern verwendeten Modelle und die Berichte des IPCC lassen nicht mit Sicherheit den Schluss zu, dass diese Szenarien eintreffen werden.” Diese übertriebenen Behauptungen, so der Autor, machten Hallam zu einem einfachen Ziel für Klimaleugner, die ihn entweder als hysterisch oder als skrupellosen Agitatoren darstellen können. Dennoch sei der Alarm auch gerechtfertigt, da der Klimaaktivismus bislang „ein durchschlagender Misserfolg“ gewesen sei – kaum etwas hat sich bislang an den ständig steigenden Treibhausgasemissionen geändert.

Um Menschen endlich in größerem Umfang zu mobilisieren und sie davon zu überzeugen, dass dringend drastische Maßnahmen ergriffen werden müssen, müsse die Klimabewegung wahrscheinlich “einen Gang zulegen”. 

Den Erfolg von Extinction Rebellion gerade in England führt Arbair auf verschiedene Faktoren zurück, wie:

  • die Tatsache, dass die Auswirkungen des Klimawandels immer sichtbarer und spürbarer werden, ebenso wie die Folgen, einschließlich Dürren, Konflikten, Migration.
  • die erheblichen Unsicherheiten in der Klimawissenschaft, sowie die zahlreichen jüngsten Entwicklungen, die darauf hindeuten, dass der Klimawandel tatsächlich schneller abläuft als erwartet, was im schlimmsten Fall zu Szenarien des Klimazusammenbruchs führen kann.
  • die zunehmende Erkenntnis, dass die Menschheit trotz aller offiziellen Zusagen und internationalen Abkommen bisher nicht von ihrem Weg abweicht,  sondern Treibhausgasemissionen kontinuierlich weiter erhöht.
  • und vielleicht auch die Tatsache, dass Großbritannien angesichts des Brexit gerade Austritt aus der Europäischen Union (EU) „einen Nervenzusammenbruch erlebt“ und zu einem günstigen Ort für die Entstehung und Ausbreitung radikaler Ideen geworden zu sein scheint. 

Arbair fährt fort: Natürlich wissen diejenigen, die sich mit den sich entwickelnden Umwelt- und Gesellschaftskrisen befassen, dass der Klimawandel, obwohl er jetzt im Mittelpunkt der Aktivisten und der Aufmerksamkeit der Bevölkerung steht, nur ein Symptom für eine allgemeinere Notlage ist: den „Overshoot“, d.h. das Überschreiten planetarer Grenzen durch die Menschheit, was das Erdsystem destabilisiert und „die Gastfreundschaft der Erde für Lebewesen“ gefährde. 

„Aufgrund dieses umfassenderen Verständnisses erscheinen die Behauptungen von Roger Hallam nicht mehr so ​​unplausibel.  Die Ergebnisse, die er vorhersagt, wenn wir den Kurs nicht ändern, sind keineswegs sicher, aber sie liegen mit Sicherheit im Bereich des Möglichen.” 

Leider könne all dies nicht vollständig und eindeutig wissenschaftlich „bewiesen“ werden: “Der Overshoot kann dokumentiert und das damit verbundene reale Risiko eines sozialen und ökologischen Zusammenbruchs kann diskutiert werden – aber der Versuch, die komplexen Systeme der Welt und ihre Wechselwirkungen im Modell zu beschreiben, bleibt letztlich unvollständig. Und damit bleibt es offen, ob man daran glaubt, dass die Menschheit derart bedroht ist, dass die Vorhersagen eintreffen werden – oder nicht.

Extinction Rebellion lenkt die Aufmerksamkeit immer mehr auf die Risiken unserer aktuellen Situation und auf die Notwendigkeit einer drastischen und sofortigen Kursänderung. “Die Bewegung solle jedoch mit Vorhersagen vorsichtig sein, was zu diesem oder jenem Zeitpunkt geschehen wird”, so Arbair.

“Klimaaktivisten im Allgemeinen sollten sich auch darüber im Klaren sein, dass der Versuch, Menschen zum Handeln zu bringen, auch das erhebliche inhärente Risiko birgt, dass sich verängstigte Menschen in die falsche Richtung bewegen, d.h. zur Selbstsucht und Ausgrenzung anderer, statt zu Solidarität.

Die „Rebellion“ könnte, laut Arbair, irgendwann feststellen, dass ziviler Ungehorsam und friedliche Proteste nicht ausreichen, um den von ihr angestrebten drastischen und raschen Wandel auszulösen und sich radikaleren Maßnahmen zuzuwenden. Sie könnte sich sogar in eine Form „ökokommunistischer“ Bewegung verwandeln, die bereit ist, die Menschen überall durch Verbot und Zwang zu „nachhaltigem“ Energie- und Materialverbot zu zwingen.” Diese Schlussfolgerungen liest man immer wieder, sie stehen allerdings in großem Widerspruch zu den Werten und Zielen von Extinction Rebellion. Die Befürchtung, dass die Bewegung irgendwann das absolute Gegenteil dessen tun wird, was sie sich gerade hart erarbeitet und wofür sie steht – gewaltfreie Kommunikation, gewaltfreies Handeln, Bürgerbeteiligung, respektvoller Umgang mit Menschen und allen Lebewesen – diese Befürchtung scheint weniger mit XR selbst zu tun zu haben, als mit denjenigen, die diese Befürchtungen haben oder auch gezielt schüren (wie es in manchen Medien geschieht, ich möchte keine Beispiele verlinken, aber sie finden sich ja mit ein paar Klicks).

Man muss also auch die Schlussfolgerungen von Arbair nicht unbedingt teilen, dass sich ein Wandel nur nach dem Beispiel Kubas vollziehen liesse: Der Ökokommunismus wurde, wie man sich erinnern muss, schon in Kuba “erfolgreich” ausprobiert. Fidel Castro war sich der ökozidalen Entwicklung der Menschheit und der Kräfte, die zu ihrem möglichen Aussterben führten, durchaus bewusst, und es ist daher wahrscheinlich kein Zufall, wenn Kuba in den letzten Jahren oft als „das nachhaltigste Land der Welt“ bezeichnet wurde. Das Beispiel Kuba zeigt jedoch auch, dass sich Menschen wahrscheinlich nur mit autoritären Mitteln, in einer geschlossenen und unterdrückten Gesellschaft auf ein „nachhaltiges“ Niveau des Energieverbrauchs beschränken lassen. Da sich die Insel für Außenhandel, ausländische Investitionen und Einflüsse öffnet, wird sich ihr hohes Nachhaltigkeitsniveau mit Sicherheit verschlechtern.”

Dies, so Arbair, sei das Dilemma, mit dem sich die Klimabewegung in den kommenden Jahren wohl auseinandersetzen müsse: Die Menschheit in nur wenigen Jahrzehnten auf ein „nachhaltiges“ Niveau des Energieverbrauchs zu bringen, sei wahrscheinlich unvereinbar mit Demokratie, Freiheit und Offenheit. “Es wird wahrscheinlich nicht lange dauern, bis sich XR mit dieser unangenehmen Wahrheit abgefunden hat“, so der Autor.

Partizipatorische Demokratie statt “Ökokommunismus”

Dabei berücksichtigt er allerdings nicht, dass eine der Hauptforderungen von Extinction Rebellion die Schaffung einer Bürger*innenversammlung im Sinne einer partizipatorischen Demokratie ist.

Die Krise in der wir sind, auch innerhalb unserer Demokratie, hat ja genau damit zu tun, dass die Politik ihrer Aufgabe nicht gerecht wird, die Bevölkerung zu schützen, und die notwendigen Schritte immer weiter verschleppt, zugunsten wirtschaftlicher Interessen. Den Widerstand dagegen als demokratiegefährdend anzusehen, ist wohl ein gedanklicher Kurzschluss. In funktionierenden Demokratien, die ihre Bürger schützen, gäbe es Extinction Rebellion nicht. Die meisten, die bei XR aktiv sind, sagen selbst, dass sie viel lieber andere Dinge tun würden, als z.B. Straßen zu blockieren, sie sehen aber, dass mit Demonstrationen bisher wenig bis nichts erreicht wurde.

In einem anderen Artikel sagt Arbair selbst: “31 Jahre nach der Einrichtung des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), 27 Jahre nach der Unterzeichnung des UN-Umweltabkommens zum Klimawandel (UNFCC) und trotz zahlreicher medial begleiteter internationaler Gipfeltreffen haben Regierungen der ganzen Welt nichts getan, um der Klimakrise zu begegnen (…) Die weltweiten CO2-Emissionen sind in den letzten drei Jahrzehnten um über 65% gestiegen und erreichten 2018 ein Allzeithoch. Infolgedessen beschleunigt sich die globale Erwärmung und die außer Kontrolle geratenen Klimastörungen haben weltweit immer dramatischere Folgen. Mit jedem Tag wächst das Risiko, einen Wendepunkt in der Destabilisierung des Klimasystems der Erde zu erreichen.”

Wie wenig die Politik ihre Fürsorgepflicht für die Bürger nachkommt, zeigt sich auch daran, dass weltweit Privatpersonen auf juristischem Wege versuchen, ihre Regierungen und auch die EU per Urteil zu mehr Klimaschutz zu verpflichten. Vor 2015 gab es solche Klagen lediglich in den USA.

In Kolumbien erzielten 25 junge Menschen einen juristischen Sieg gegen die Regierung, da diese nicht genug gegen die Abholzung des Regenwaldes unternahm. In Pakistan sah der Jurastudent und Landwirt Ashgar Leghari durch die immer häufiger auftretenden Überschwemmungen und Dürren die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser gefährdet. Er verklagte die Regierung auf entsprechende Klimaschutzmaßnahmen – und gewann. Zuletzt verbuchte die Umweltschutzorganisation Urgenda in den Niederlanden einen Erfolg: Die Richter verpflichteten die niederländische Regierung zur drastischen Reduktion des Ausstoßes von Treibhausgasen.

Quelle: fluter.de

Dass der Autor in dieser Situation vor allem einen “Ökokommunismus” befürchtet, verwundert dann doch. Und warum er sich für seine Überlegungen auf Kuba bezieht – statt z.B. Finnland? Das Land will bis 2035 (statt bisher 2045) klimaneutral sein. Mit diesem Versprechen haben die Sozialdemokraten in Finnland den Sieg bei der Wahl errungen. In Dänemark liegen sie mit dem Klimathema ebenfalls vorn, in Spanien haben sie schon gewonnen. Alles demokratische Länder.

Vielleicht gibt es doch mehr Optionen als diejenigen, mit denen wir bisher mehr oder weniger gescheitert sind?