Ein neues Verständnis von Emotionalität

Wir brauchen ein neues Verständnis von Emotionalität 

Natürlich kann man argumentieren, dass Emotionen in einer sachlichen oder wissenschaftlichen Diskussion zu Klimafragen nichts zu suchen haben. Ich bin jedoch der Ansicht, dass genau diese Haltung ein riesiges immanentes Problem darstellt, in einer Situation, in der es keine objektive Position geben kann. Wir können die Versuchsanordnung nicht von außen betrachten. Wir sind Teil davon.

Unendlich lange haben Klimawissenschaftler auf Zahlen und Fakten hingewiesen. Inzwischen sind viele von ihnen persönlich zutiefst erschüttert und betroffen – und das ist mehr als angemessen. 

Die australische Klimaforscherin und Mitarbeiterin des IPCC Dr. Joëlle Gergis schreibt, dass sie nach ihren eigenen Vorträgen immer wieder in Tränen aufgelöst ist: „Manchmal schafft es die Realität der wissen­schaftlichen Fakten, den emotional eingefrorenen Teil meiner selbst aufzutauen, den ich sonst für meine Arbeit brauche. In diesen Momenten ist das, was auftaucht, pure Trauer (…) Aber in diesen Tagen schlägt meine Trauer auch um in Wut. Vulkanartige, explosive Wut. Weil in demselben IPCC-Bericht, in dem die Details der bevorstehenden Apokalypse skizziert werden, die Klimawissenschaft eindeutig erklärt hat, dass eine Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 Grad geophysikalisch möglich ist.“ 

Die Emotionalität ist hier kein Fehler, keine Schwäche, sondern dringend notwendig, damit uns die Informationen wirklich erreichen. Es gibt, wenn es um unser aller Überleben geht, auch keine neutrale Position, von der aus wir dies kommentieren können – dieses Problem sehe ich im Journalismus, in den vergangenen Monaten habe ich unzählige Beispiele dazu gesammelt.

Das, was wir als nüchtern und objektiv zu be­zeichnen gewohnt sind, ist möglicherweise einfach Teil unserer Abwehr.

Ich möchte dies an drei unterschiedlichen Beispielen erläutern: 

1. Christopher Caldwell, leitender Redakteur des Weekly Standard, schreibt in der New York Times im Bezug auf Greta Thunberg: Ihr radikaler Ansatz widerspreche der Demokratie. „Kinder in Gretas Alter haben noch nicht viel vom Leben gesehen.“ Ihre Weltanschauung sei unrealistisch, „ihre Prioritäten sind aus dem Gleichgewicht geraten“. Sich selbst und anderen behält Caldwell vor, „einfach anderer Meinung zu sein, oder andere Prioritäten zu haben.“ 

Die Entscheidung des britischen Guardian, in Artikeln zukünftig den Begriff „Klimakrise“ anstelle von „Klimawandel“ und „Erderhitzung“ anstelle von „Erderwärmung“ zu verwenden, hält Caldwell für eine „Politisierung der Sprache“. Damit negiert er, bewusst oder unbewusst, dass der Begriff „Klima­wandel“ ebenso politisch ist wie der Begriff „Klimakrise“ – er steht nur im Dienste einer anderen, beschwichtigenden und verharmlosenden Politik. Wenn man die Klimafakten zugrunde legt, ist der Begriff „Klimawandel“ keineswegs neutraler oder objektiver, sondern schlichtweg weniger zutreffend. Wir befinden uns mitten in einer Klimakrise. Und die Attitüde von Nüchternheit und Unaufgeregtheit verschleiert dies.

2. Ein Gegenbeispiel: “Kein menschliches Wesen würde hier wohnen wollen”, twittert Trump Ende Juli 2019 über Baltimore – und nennt es ein “widerliches, von Ratten und Nagern befallenes Drecksloch”. Als CNN-Moderator Victor Blackwell diese Tweets kommentieren will, muss er plötzlich innehalten, er kämpft mit den Tränen und ist sichtlich bewegt. Es ist ein Moment, in dem auch den Zuschauern eindringlich bewusst wird, an welches Ausmaß der Verrohung wir uns bereits gewöhnt haben. Schmerz, Trauer, Betroffenheit sind angemessene und essentiell wichtige Reaktionen auf zunehmende Inhumanität. Eine politische Diskussion ohne diese zutiefst menschliche Antwortfähigkeit wäre unvollständig und würde letztlich Teil des Problems.

3. Zurück zu Greta Thunberg – und zu ihrer Rede vor dem EU-Parlament im April 2019: 

Sie ruft (erneut) dazu auf, in Panik zu geraten: „Eine große Anzahl von Politikern hat mir gesagt, dass Panik niemals zu etwas Gutem führe. Und ich stimme zu. Unnötig in Panik zu geraten, wäre schrecklich. Aber wenn Ihr Haus in Flammen steht und Sie möchten, dass es nicht niederbrennt, ist ein gewisses Maß an Panik erforderlich.“

Bei der Aufzählung dessen, was bereits alles zerstört und verloren ist, kämpft auch Greta Thunberg mit den Tränen. „Täglich sterben bis zu 200 Arten aus. Fruchtbarer Boden erodiert. Unsere großen Wälder werden abgeholzt. Die Luft ist toxisch verseucht. Die Ozeane versauern. Dies alles sind katastrophale Trends, die durch unsere Lebensweise beschleunigt werden. Und wir, im finanziell bevorzugten Teil der Welt, fühlen uns berechtigt, einfach so weiterzumachen.“ 

In diesem Moment ist Greta Thunberg eine 16jähige, die nervös mit ihren Fingern spielt, um Fassung ringt, den unglaublichen Verlust sieht und benennt – und inständig um unsere Hilfe bittet. Schweift die Kamera über die Zuhörenden, sieht man Menschen, denen ebenfalls Tränen in den Augen stehen, Menschen, die sich verschämt die Augen wischen, Menschen, die wie versteinert zuhören und Menschen, die den Moment mit der Handykamera zu bannen versuchen. 

Sie alle ringen um ihre Fassung. Was, wenn wir damit einfach einmal aufhören würden? Nur für einen Moment? Wir selbst könnten – was wichtiger wäre, als Beiträge wie diesen hier zu schreiben oder zu lesen – die Rede zuhause nachhören, innehalten und auf die eigene Resonanz achten. Was steigt auf? Womöglich tiefe Trauer. Schmerz. Scham. Hoffnungslosigkeit. Angst. Vielleicht auch Ärger oder der Wunsch nach Ablenkung und Erleichterung. All das wirkt. In uns allen. Und damit müssen wir umgehen, weil wir sonst nicht zu klaren, bewussten Entscheidungen kommen.