Venedig im acqua alta – ein Reisebericht

Wieder einmal haben wir diskutiert, diesmal über die Initiative der 11000 Wissenschaftler, die in diesen Tagen vor den unabsehbaren Folgen der Klimakrise warnen. „Auch Wissenschaftler können sich irren“, sagt ein Bekannter. „Venedig steht ja auch noch“, fügt er zum Abschied hinzu, weil er weiß, dass wir dorthinfahren. Bittere Ironie: einen Tag später ist das acqua alta in allen Medien, Venedig erlebt das schlimmste Hochwasser seit 53 Jahren. Wir überlegen, die Reise abzublasen. Und steigen dann doch in den Zug. 

Unterwegs haben wir Zeit, uns darauf einzustellen, dass dieses Mal wohl einiges anders sein wird als sonst. Die schmale Verbindung zwischen Mestre und der Lagune, nur die autostrada neben und die Gleise unter uns, ein dünnes, fragiles Band, so erscheint es uns dieses Mal. 

Kaum kommen wir an am Bahnhof St.Lucia, drückt uns eine Touristin die Gummistiefel  – genauer gesagt, sind es Überzieher – in die Hand, die sie und ihr Mann hier erstanden haben. „We are leaving“, sagt sie, „we don´t need them anymore.“ Wir werden sie brauchen. Ein Dank, ein Winken, und dann sind wir auf einem der Vaporetti, die seit heute wieder fahren. Und auf dem Canale Grande. 

Die Stadt wirkt erschöpft, wie ein halb ertrunkenes Tier, das man gerade erst aus dem Wasser gezogen hat. Die Menschen still und bedrückt, die Mauern feucht, dunkel, marode, die Fassaden wirken brüchiger denn je. Brückengeländer, in denen die Streben und Säulen fehlen wie ausgefallene Zähne. Herausgefallene Fliesen, abgebröckelter Putz. 

Wir steigen aus, laufen bis zur Station Arsenale, die im Moment nicht angefahren werden kann – ein Vaporetto wurde von den Wellen und vom Wind bis auf den Gehweg gedrückt und zerstört. Es wird zwei Tage später geborgen werden. Vor dem zerstörten Boot ein Plakat mit dem Motto der diesjährigen Biennale: „May you live in interesting times“. In diesem Moment wirkt es wie ein unpassender, schlechter Scherz. 

Via Garibaldi

Seit unseren ersten Reisen nach Venedig ist die Via Garibaldi die Straße, in der ich mich zuhause fühle. In der uns die alte, ehrfurchtgebietende Frau im Café auf der Höhe des Parks, eine schwarz gekleidete und meist grimmige Nonna, begrüßt wie alte Bekannte. Heute tut sie es nicht. Heute sind Cafés, Restaurants und selbst der kleine Migros-Laden geschlossen.

Silvia, bei der wir wie immer übernachten, ist dennoch guter Dinge, sie nennt uns ein Restaurant in der Nähe, das offen hat, und wo wir – als wir dort sagen, dass sie uns geschickt hat – auch einen Platz bekommen. Es gibt Pasta. Keine Pizza. Bei Hochwasser gibt es keine Pizza, in keinem der Restaurants, die noch geöffnet haben. Pasta, ja, Fisch und Desserts ebenfalls, aber keine Pizza. Ob das an den Öfen liegt? Wir fragen nicht nach, wir wollen nicht nerven. 

Am nächsten Morgen sehen wir vom Fenster aus: der Campo de ruga vor unserm Haus ist wieder einmal überflutet. Der Berg zerstörter Möbel und Gegenstände, der nach den ersten Fluten in der Mitte der Platzes aufgeschichtet wurde, treibt wieder auseinander – ein Karton, eine Fussmatte schwimmen umher, Matratzen, Fernseher, ein Heimtrainer stehen noch dort. Eine Tür gegenüber öffnet sich, der dicke Nachbar zeigt seinem kleinen Hund, dass das Gassigehen unmöglich ist, der Hund schaut rechts und links, hält die Nase ins Wasser, dann verschwinden die beiden wieder im Haus. 

Mit unseren Plastikstiefeln über den Schuhen stapfen wir den Hausflur hinunter, auch der steht schon unter Wasser. 

Die ersten Schritte draußen: Der Widerstand des Wassers macht die Bewegungen viel mühsamer als erwartet, außerdem darf man beim Gehen nicht zu hohe Wellen schlagen, weil das Wasser sonst in die Stiefel läuft. 

Ein Vater trägt sein Kind auf den Schultern wie ein Christophorus, doch all das Wasser scheint auf die Blase des Kleinen zu drücken, an der nächsten Brücke nimmt der Mann das Kind herunter, hält es so, dass es pinkeln kann. Wasser zu Wasser. Dann gehen sie, wie vorher, weiter, er trägt, wie die meisten Venezianer, grüne Stiefel bis über die Oberschenkel, die übrigen tragen Wathosen und sind damit vollkommen geschützt. 

Das Wasser in der Calle de ruga ist zu tief, als dass wir mit unseren kniehohen Schützern hindurchstiefeln könnten, zwei Carabinieri kommen uns entgegen, sie reichen uns schwarze Plastiksäcke, für jedes Bein einen Sack, wir steigen hinein und kommen so bis zur nächsten Brücke. Hier reicht uns das Wasser bis an die Oberschenkel, wir müssen die Enden der Säcke gut festhalten. Neben uns schwimmen ab und zu Hundekotbeutel und Plastikflaschen, aber das Wasser selbst ist erstaunlich sauber und klar, es ist das Meer selbst, das in die Gassen strömt. 

Alle Läden auf der Via Garibaldi sind zu, natürlich. Aber hier reicht uns das Wasser nur noch bis zu den Waden und wir können wieder aus den Säcken steigen. Ein paar Touristen irren umher, sie haben sich bei den Händlern die Plastikstiefel farblich passend zu ihren Schals oder Schirmen gekauft, in Neongelb, Orange oder zartem Pink. Oder in silbrig glitzerndem Himmelblau, wie unsere eigenen. 

Auf St. Elena, der Halbinsel, die ein wenig höher liegt, bekommen wir den ersten Cappuccino des Tages. 

Markusplatz

Später stehen wir vor dem Markusplatz, vor der riesigen überfluteten Fläche, die wie Brachland vor uns liegt. Einige stapfen darin herum. Doch die meisten drängen sich auf den Stegen und unter den Arkaden. Es scheint, als wären nur noch Asiaten da, abgesehen von den Ladenbesitzern und Angestellten in den Eingängen ihrer Geschäfte, die immer weiter putzen und wischen.

Ein paar Presseleute mit Kameras, Mikrophonen und Windschutz. Reisegruppen und Pärchen. Es gibt viele, viel zu viele, die sich kurz ins Wasser stellen, posieren, lachen, die Arme hochreissen, einen Moment lang in einer albernden Pose verharren fürs Foto. Und weiterziehen. Für manche scheint dies ein Highlight der Reise zu sein. Ja, auch wir sind Touristen, aber wir wünschten uns doch etwas mehr Scham-, oder eher Mitgefühl. Später lesen wir, wie viele Venezianer erzürnt sind über die sorglose, achtlose Art dieses Katastrophen-Tourismus.

Später lese ich in der „art spezial Venedig”: “Die UNESCO hat Venedig schon mehrmals aufgefordert, etwas gegen die Besucherflut zu unternemen, andernfalls riskiere die Stadt den Titel „Weltkulturerbe“. 33 Millionen Touristen treffen jährlich auf  etwa 60000 Bewohner der Altstadt.”

Es folgt ein bissiges Zitat: “Auf jeden Venezianer kommen also rund 550 Touristen und auch wenn jeder Venezianer jährlich zwei Touristen ins Wasser schubsen würde, wäre das nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Man könnte es ihnen nicht verdenken, würden sie es dennoch tun.

Biennale: May you be interested in life and time …?

Auch wenn gehämmert, geputzt und gearbeitet wird, und manche Ausstellungsräume in den Arsenale noch aufgrund von Hochwasser-schäden geschlossen sind: Man kann wieder zur Biennale. Kunst. Kultur. Und wieder die Banner und Plakate, überall: „May you live in interesting times.” May you? Wie wäre es mit: May you be interested in living? Live an interesting life? In livable times?

Was nützen all die Werke, die uns aufrütteln und die Probleme der Welt illustrieren sollen – wenn im zur Biennale gehörenden Café noch immer im Minutentakt unendlich viel Müll produziert wird: Cappuccino und Säfte im Plastikbecher, Kuchen und Salate auf Plastiktellern, mit Plastikdeckeln versehen – warum wird nichts, aber auch gar nichts von dem geändert, was einen Pavillon weiter illustriert, problematisiert und ästhetisiert wird? 

Eine Glosse im ART- Magazin: „Früher konnte man in den Biennale-Pavillons der Welt entfliehen. Und wenn es dort wirklich einmal zu kompliziert gegenwärtig wurde, flüchtete man einfach in eine der vielen Kirchen und suchte Trost bei Tizian, Tiepolo oder Tintoretto. Heute wird man als Besucher auf Schritt und Tritt daran erinnert, in welch bedauernswertem Zustand sich die Welt befindet – und dass wir Schuld daran sind.“ Was wird nicht alles in den Pavillons, Kirchen und Palazzi thematisiert: Plastikmüll, untergehende Inselparadiese, Klimawandel, Migration und sterbende Arten – „Und was machen wir mit diesen Erkenntnissen?“, fragt die Autorin. „Mit dauergesenktem Haupt durch die Giardini laufen. Schließlich sind wir alle im Flugzeug angereist, auch die Kunst und auch die kritischsten Künstler.“ – „Zum Glück“, damit schließt die Glosse, „hat die Evolution für solche Fälle lähmender Gewissenskonflikte einen Notfallplan parat: Akute Amnesie und Weitermachen wie bisher.“ Sich davonschleichen zu weniger problematischer Kunst, schlägt die Autorin von, und dann ins Ristorante, um frittierte Meeresfrüchte zu bestellen. Nun ja. Ironische Distanz ist auch eine Möglichkeit. 

Wir bemerken jedenfalls – und sind selbst davon überrascht – dass uns dieses Mal nichts von dem, was wir in den Ausstellungen gesehen haben, wirklich erreicht hat. Und dass Weitermachen wie bisher für uns keine Option mehr ist. Auch nicht im Bezug auf die Biennale. 

Fondaco dei Tedeschi

Am nächsten Tag, als das Wasser – wieder einmal – gesunken ist,  stranden wir in der Fondaco dei Tedeschi. 500 Jahre ist das imposante Gebäude alt.  Und jetzt, seit drei Jahren, ein Konsumtempel, voll von luxuriösen Waren – to go. Ein handtellergroßes Spielzeugauto aus Holz für knapp 150 Euro. Glitzerklamotten. Handtaschen. Silbrig glitzerde Turnschuhe. Seifen. Parfums. Nicht, aber auch gar nichts, was man zum Leben brauchen würde. Junge Angestellte, alle in schwarzen Outfits, sie stehen reglos und mit leerem Gesichtsausdruck da, die Garde eines gehobenen Wohlstandes, an dem hier jede und jeder teilhaben kann – eine Tüte Chips mit Trüffelaroma können sich doch (fast) alle leisten. Oder einen Cappuccino im Atrium.

Die Szenerie beelendet uns so, dass wir, nach einem kurzen Rundblick vom Dach aus, gleich wieder gehen.

Leben mit den Gezeiten 

Vielleicht sind die wahren Künstler die Menschen auf der Via Garibaldi. Die uns abends den letzten Grappa ausschenken, und nebenbei die riesige Kühltheke auf Bierkisten aufbocken – eine wacklige Konstruktion, die das Ding aber hoffentlich vor den nächsten Fluten bewahrt. Dieselben Menschen stellen uns am nächsten Morgen schon wieder den nächsten Cappuccino hin. Das Steigen und Abfallen des Wasserpegels bestimmt unseren Tagesablauf. Gerade ist das Wasser erst knöcheltief, wir sehen es von unserem Fenster aus, schnell noch einmal vor die Tür, bevor der nächste Höchststand erreicht ist, was laut der Prognosen in drei Stunden soweit sein wird. 

Die Tür einer Bar ist noch halboffen, wir dürfen über den Dammbalken hineinsteigen, stehen auch dort im Wasser. Die Stühle sind hochgestellt, die Pumpen, die das Wasser zurück auf die Straße jagen, laufen auf Hochtouren. 

Eine Art Fatalismus ist spürbar, Galgenhumor, aber auch der soziale Zusammenhalt. Man grüßt lauthals, streicht den Kindern über die Köpfe, trinkt schnell einen Cappuccino, kurz darauf sind die Läden wieder verschlossen und dicht. Ein einziges Cafe in der ganzen Geschäftsstrasse hat noch auf und bietet kostenlosen Kaffee für die Geschäftsleute an. 

Ja, auch die Wut ist spürbar. Die Art, wie die Venezianer ihre Laden- und Hauseingänge verbarrikadieren, hat etwas – durchaus nachvollziehbar – Brutales. Da sind nicht mehr nur die kaum kniehohen Dammbalken. Die Türen sind mit Brettern vernagelt, die Fugen silikon- und dämmschaumverdichtet, ganze Eingänge gleich komplett zugemauert. „MOSE fatto in casa“ steht auf den Pressspanplatten, mit denen eines der Häuser gesichert ist. Jahrelang haben sie auf die Sturmflutbarrieren gewartet, jetzt helfen sie sich selbst, weil es sonst niemand tut. Bauen wir uns unseren MOSE halt selbst.

Klima, Korruption, Kreuzfahrtschiffe

2003 setzte Silvio Berlusconi den ersten Spatenstich, und noch immer ist kein Ende in Sicht. Das MOSE-Projekt ist zum Milliardengrab geworden. Klima, Korruption, Kreuzfahrtschiffe, die massive Ausweitung der Fahrrinnen, damit die riesigen Kreuzfahrtschiffe anlegen können, was immerhin jedes Mal 60.000 Euro bringt (Venedig, heißt es, hängt an dieser Art von Tourismus wie an eine Droge) – die Summe all dessen führt in diesem Jahr dazu, dass der Wasserstand innerhalb weniger Tage dreimal hintereinander Rekordhöhen erreicht, genauer gesagt, die höchsten Werte seit 53 Jahren.

Auch der Bestechungsskandal rund um MOSE erreichte Rekorde: als der größte Skandal der Nachkriegszeit in Italien. Wohl eine Milliarde Euro Bestechungsgelder sind geflossen. Beamte und Politiker auf lokaler wie auf nationaler Ebene, gegen hundert wurde ermittelt, 35 wurden verhaftet, weiteren hundert wurde Amtsmissbrauch, Bestechung, illegaler Parteienfinanzierung und Geldwäsche vorgeworfen. 

Noch weiß niemand, ob und wann MOSE je fertiggestellt werden wird – die Tore sind bereits verrostet. Und man weiß nicht einmal, ob man es den Bewohnern wünschen soll. In einem Artikel der Journalistin und Schriftstellerin Petra Reski lese ich später:

„Falls das Ding jemals in Betrieb geht, sagen die Venezianer, wird sie die Lagune in eine Kloake verwandeln, bei jeder Schließung wird der Sauerstoff der Lagune schnell verbraucht, erst sterben die Fische, dann die Vögel, und am Ende wir.“

Und weiter schreibt sie (zum Aufklappen):

 „Wir Venezianer hielten es erst für eine Fotomontage, als wir dieses Bild von der lächelnden Politikerkaste in Gummistiefeln vor dem Markusdom sahen, umringt von Fernsehkameras, grimmig blickenden Leibwächtern und enthusiastischen Selfiejägern: der greise und vorbestrafte Berlusconi, der venezianische Forza-Italia-Abgeordnete und ehemalige Minister Renato Brunetta, der venezianische Unternehmer und Bürgermeister Luigi Brugnaro, mit dem beglückt grinsenden venezianischen Oppositionsführer der Partito Democratico Nicola Pellicani im Hintergrund.

Am Tag darauf zog dann der Selfie-König und Lega-Chef Matteo Salvini durch die Fluten des Markusplatzes, in sportlicher Daunenjacke und mit Basecap: ein Heerführer umringt von seinen Generälen. Kurz darauf folgte sein Parteifreund (oder -feind), der Regionalpräsident des Veneto, Luca Zaia.

Wir konnten nicht fassen, dass diese italienischen Politiker tatsächlich die Stirn hatten, sich inmitten der größten Hochwasserkatastrophe Venedigs seit einem halben Jahrhundert allen Ernstes zu einem Fototermin vor den Dogenpalast zu stellen. Dass sie es wagten, sagt einiges über Venedig und viel über Italien aus. (…)

Im Schnitt ist die Lagune nicht tiefer als 1,50 Meter. Sie ist also nicht gemacht für Schiffe mit Tiefgang, für Kreuzfahrtschiffe und für Containerfrachter. Ins Wanken geriet das delikate Gleichgewicht der Lagune erstmals in der Zeit des Faschismus, als eine geschäftstüchtige Gruppe von Unternehmern Porto Marghera baute, den Industriehafen mit einer Petrochemieanlage. Gleichzeitig nötigten sie Venedig zur Zwangsehe mit dem Festland, die bis heute fortwährt.

180 000 Einwohner, der überwiegende Teil der Bevölkerung des Großraums Venedig, leben auf dem Festland, weshalb die 52.000 eigentlichen Venezianer in der Minderheit sind. Über sie rollt nicht nur die Flut, sondern auch jährlich der Tross von gut 30 Millionen Touristen hinweg, ohne dass sie sich dagegen zur Wehr setzen können: Bei Wahlen unterliegen die Inselbewohner regelmäßig der großen Mehrheit vom Festland.

Seit der Grabung des Canale dei Petroli, der Fahrrinne, die für die Erdöltanker von Porto Marghera ausgebaggert wurde, haben sich die Strömungsverhältnisse und die Morphologie der Lagune radikal verändert. Wenn der Wind das Meer in die Lagune drückt, dringt schneller und mehr Hochwasser in die Stadt als je zuvor. Der Kanal hat auch die „Barene“ weggespült, jene sumpfartigen Inseln, die bei Hochwasser wie ein Schwamm wirkten. Schon bei der verheerenden Überflutung von 1966 wurde der Canale dei Petroli als eine entscheidende Ursache genannt. (…)

Der Industriehafen wurde dennoch ausgebaut. Auch die Kanäle in der Lagune wurden immer tiefer ausgegraben, zuletzt vor allem für die Kreuzfahrtschiffe. Das befördert die Erosion: Durch die Fahrrinnen spült der Boden der Lagune ins Meer, so dass sie sich zunehmend in einen offenen Meeresarm verwandelt hat. Ungeachtet dessen wurde bis vor wenigen Tagen ernsthaft darüber diskutiert, welcher Kanal für die Kreuzfahrtschiffe noch tiefer auszubaggern sei.

Eine weitere gravierende Ursache für das Hochwasser ist der 2006 gestartete Bau der Hochwasserschleuse MOSE. Die beweglichen Wassertore am Meeresgrund sollen bei großer Flut wie Dämme funktionieren. Ein Megaprojekt im Wert von sieben Milliarden Euro, das eine Kaste von Unternehmern und Politikern reich gemacht hat – so etwas wie der Berliner Flughafen im Wasser. Seit 13 Jahren wird daran gebaut, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Durch die Schleuse wurden die Öffnungen zur Lagune verengt, hinzu kam der Bau einer gigantischen künstlichen Insel und von Stahlbetonmauern. Mit der Folge, dass das Wasser bei Flut schneller in die Lagune hinein- und langsamer abfließt.

Kurz: Mit MOSE wurde das Gegenteil von dem erreicht, was die Venezianer sich erhofft hatten. Statt weniger gibt es jetzt mehr Hochwasser. Was auch deshalb nicht verwundert, weil das Projekt unter Spezialisten schon vor dem Baustart als veraltet galt. Erst im April dieses Jahres war es zu einem besonders ungewöhnlichen Wasserstand gekommen: Zum ersten Mal stand das Hochwasser in der Lagune höher als im offenen Meer.

Deshalb ist es so erstaunlich, dass all die italienischen Politiker, die die politische Verantwortung für das Schleusenprojekt tragen, gerade jetzt ein Schaulaufen auf dem Markusplatz wagten – vor den Kameras der Welt. Auch angesichts der unzähligen neu beschädigten und bedrohten Kulturschätze der Stadt. (…)  Am 1. Dezember werden die Venezianer übrigens zum fünften Mal versuchen, dem Zwangsbündnis mit dem Festland zu entkommen. Per Referendum wollen sie sich eine eigene Stadtverwaltung erstreiten – damit sie endlich wieder selbst über ihr Schicksal bestimmen können.” So weit Petra Reski.

Inzwischen wissen wir: Das Referendum ist gescheitert.

Fahren Sie nach Padua

Noch ein lesenswerter Artikel von Petra Reski: “Wie die letzten Venezianer versuchen, die Lagunenstadt zu retten”

Hier nur drei Zitate daraus: 

  • Wer einen Arzt braucht, muss nach Mestre fahren, in Venedig gibt es nur chinesische Taschengeschäfte und pakistanische Ein-Euro-Läden, Muranoglas-Anhänger und Wackelgondeln.
  • „Venedig“, sagte einst der Conte Marcello, „ist ein alter, vermodernder Baum, auf dem Schmarotzerpflanzen so lange gedeihen, bis sie ihn aufgefressen haben.“
  • Und ihr „Reisetipp für Venedig“: Verschonen Sie diesmal die Lagunenstadt und fahren Sie besser nach Padua, 40 Kilometer entfernt. 

Später lese ich auf Utopia de einen Kommentar von Martin Tillich:

“Venedig hat Jahrhunderte überlebt, viele Hochwasser und mehr als 20 Pestepidemien. Heute ist klar: Wir werden Venedig verlieren. Die Frage ist nur, warum?

Wer einmal in Venedig war weiß: Diese Stadt verschlingt ihre Besucher. Zu unwirklich wirken die Bauten, die scheinbar direkt auf dem Wasser stehen, zu vergänglich wirkt der Prunk, zu überfüllt sind die schmalen Gassen. Ein surrealer Ort, der einen nicht loslässt, weil er real ist. (…)

Eine weltoffene Stadt für den Handel – und dadurch auch offen für eine Krankheit, die sich von Mensch zu Mensch überträgt. Wie konnte man die Pest trotzdem besiegen? Verkürzt gesagt: durch die Gründung einer Gesundheitsbehörde und den weitreichenden Einsatz neuartiger Quarantäne-Maßnahmen.

Wie Gondeln oder der Markusplatz gehört auch das Hochwasser quasi schon immer zu Venedig – und damit auch die Gefahr, dass „aqua alta“ (Hochwasser), die Stadt zerstören kann. Darum wurde bereits 16. Jahrhundert ein „Wasserkomitee“ gegründet. Dieses ließ beispielsweise Wehre und Dämme in Richtung Mittelmeer bauen und leitete in einem gigantischen Bauprojekt Flüsse um, um die Versandung der Lagune aufzuhalten. Auf den Punkt gebracht: Bis heute überlebte Venedig jedes Hochwasser, weil man wirkungsvolle Maßnahmen ergriff, um die Stadt zu schützen.

Jetzt ist 2019. Vor einem Jahr konnte man lesen: „Venedig werden wir verlieren, das ist nicht umstritten“. Für Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und andere Experten ist es nur noch fraglich, wann es passieren wird. Der Grund: Der Klimawandel lässt die Meeresspiegel ansteigen. Eine Stadt, die Jahrhunderte überlebte, gilt heute also offiziell als verloren.

Kapitalismus auf Kreuzfahrt – die neue Pest.

Wann auch immer Venedig untergehen wird, sie ist schon heute eine Geisterstadt. Vor 28 Jahren lebten noch 78.000 Menschen im historischen Zentrum, heute sind es noch 55.000. Fast die Hälfte derer ist über 60 Jahre alt.

Die 55.000 Einwohner bekommen jedes Jahr Besuch von 30 Millionen Touristen. Das heißt: Jeden Tag um die 25.000 Touristen mehr als Menschen, die dort leben. Viele von ihnen fallen als Tagestouristen von Kreuzfahrtschiffen ein, verstopfen die Wasserbusse und Sehenswürdigkeiten, verspeisen ein überteuertes Touristen-Menü, und ergattern ein Andenken aus Murano-Glas. Letztere sind heute meist Billig-Nachmachen aus China und stammen nicht mehr aus der Handwerks-Tradition der Venedig-Insel. (…)

Das Ende der Welt ist vorstellbarer als das Ende des Kapitalismus

Wer länger in Venedig urlaubt, bucht oft über Airbnb eine Wohnung. Doch was als nettes Sharing-Angebot daherkommt, ist knallharter Kapitalismus. Denn über die Internetplattform werden reguläre Wohnungen an Touristen zu Preisen vermietet, die sich Einwohner nie leisten könnten. Die Folge: Das Leben in Venedig wird vielen Venezianern zu teuer – und darum fliehen sie aus der Stadt.” So weit Martin Tillich.

An anderer Stelle lese ich: “435 Gondolieri gibt es in Venedig, die meisten von ihnen haben den Beruf vom Vater oder schon dem Großvater übernommen. Aber nicht die Gondel: sie muss dem Gondoliere auf den Leib geschneidert, ebenso wie die Rudergabel, damit der Gondoliere sie handhaben kann. Und er muss sein Gewicht halten, um das fragile Gleichgewicht zu gewährleisten, darf er weder zunehmen noch an Gewicht verlieren. Beinahe ein Sinnbild für die Fragilität des Gleichgewichtes der Lagune.
Noch bis zu den 60er Jahren konnte man zum Schwimmen in die Kanäle springen. Jetzt können selbst die meisten der Gondolieri nicht einmal mehr dort wohnen, die meisten leben auf dem Festland, weil sie sich Venedigs Mieten nicht mehr leisten können.”

Ein geradezu ikonisches Bild der Fotografin Claudia Manzo

Noch ein Absatz von Martin Tillich: “Was haben Kapitalismus, Klimawandel, Pest und das untergehende Venedig miteinander zu tun? Die Antwort zeigt ein Bild perfekt, das auf Facebook viral ging. Zwei Frauen, offenbar Touristinnen, stehen tief im Hochwasser, es scheint, als wären sie gerade eben noch shoppen gewesen. „Es scheint einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus, schrieb einer der vielen Facebook-Nutzer, die das Bild gepostet haben. Das Original stammt von der italienischen Fotografin Claudia Manzo.

Venedig hat Jahrhunderte überlebt, viele Hochwasser und die Pest. Wenn es um Leben und Tod ging, hat die Stadt nicht einfach so weitergemacht, sondern radikale Maßnahmen ergriffen. Seit einem Jahr nun ist Venedig offiziell totgesagt. Der Klimawandel wird die Meeresspiegel steigen lassen – dagegen können wir laut Wissenschaft nichts mehr tun.

Es passt gut ins Bild, dass der Schnappschuss nicht vom aktuellen Hochwasser stammt, sondern aus dem Vorjahr. Same procedure every year: Wir konsumieren Bilder und regen uns darüber auf, dass die Touristinnen trotz Hochwasser weiterkaufen. Was gemerkt? Wir machen weiter wie bisher, obwohl unser Planet eine ähnliche Diagnose erhalten hat wie Venedig. Die Wissenschaft sagt, dass wir nur eine fünfprozentige Chance haben, die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen – die nächsten zwei Jahre sind für die Zukunft der Menschheit entscheidend. Wir müssen uns alle bewegen und zwar jetzt – oder wir sehen uns weiterhin zu, wie wir untergehen.“

Am nächsten Tag reisen wir ab. Vorher putzen wir noch einmal durch, weil wir dieses Mal so viel mehr Dreck in die Wohnung gebracht haben, den wir Silvia nicht hinterlassen wollen. Die Plastikstiefel lassen wir da, für die nächsten Gäste. Für das nächste acqua alta. 

Im Zug lese ich einen Artikel aus dem Stern: „Es ist an Ironie fast nicht zu überbieten: Nur Minuten, nachdem der Regionalrat in Venedig gegen Maßnahmen für mehr Klimaschutz gestimmt hat, werden die zuständigen Beamten mit den unmittelbaren Folgen extremer Wetterphänomene konfrontiert: Der gesamte Sitzungssaal im Palazzo Ferro Fini, wo der Rat tagt, läuft voller Wasser. Mehrere Räume in dem Verwaltungsgebäude am Canal Grande stehen kniehoch unter Wasser. Venedig wurde auch an diesem Abend nach stundenlangem Regen und heftigem Wind komplett überschwemmt.“