Putins Krieg – und unser langsames Ankommen in einer neuen Realität 

Putins Krieg

»Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht«so Außenministerin Baerbock am 24.02.2022. Die Nachricht von Putins Überfall auf die Ukraine hat uns alle zutiefst erschüttert und überwältigt. Wir sind fassungslos, sprachlos – und zugleich übervoll mit Text- und Videonews, Interviews, Analysen, Prognosen, die wir sehen und lesen … bis der Liveblog wieder neue erschütternde Nachrichten anzeigt. Hilflos müssen wir miterleben, wie die ukrainische Bevölkerung leidet. Jeden Tag mehr.

Und auch mir bleibt wenig anderes, als ein wenig von dem zusammenzutragen, was mir in den letzten Tagen wichtig und/oder hilfreich erschien.

Das Perspective Daily-Team schreibt: “Mit jeder neuen Nachricht, jeder weiteren Eskalation wachsen auch die Angst, die Verzweiflung und Hilflosigkeit, auch bei Menschen, die nicht direkt von den Ereignissen betroffen sind. Dann wiederum gibt es Momente im Alltag, in denen die Welt in Ordnung zu sein scheint. Egal was wir fühlen, irgendwie erscheint alles unangemessen angesichts des Leids, das Ukrainer:innen derzeit in ihrem Heimatland oder auf der Flucht aus dem Land erleben.” 

Auch in unserer therapeutischen Arbeit erleben wir in letzter Zeit immer wieder, dass es nicht um die jeweils eigene Lebenssituation oder -geschichte,  um persönliche Belange geht, sondern um die Suche nach einem Umgang mit dem Weltgeschehen, das uns medial überflutet, erschütternd, real und noch immer abstrakt und unbegreiflich zugleich. Klimakrise, Corona – und nun ein Angriffskrieg mitten in Europa, der auch unsere Sicherheit bedroht. 

Man wird ja wohl noch träumen dürfen … so ist dieser social media Beitrag überschrieben.

Als erste, unmittelbare Reaktion darauf konnten wir verschiedenste Bewältigungsstrategien miterleben, Ungläubigkeit, Relativierung, manche wollten die Nachrichten erst gar nicht an sich heranlassen, andere waren nur noch online, suchten nach immer neuen Informationen und nach neuen Gewissheiten – die es im Moment einfach nicht geben kann. 

Politisch wie persönlich haben wir in einer trügerischen Illusion und Hoffnung gelebt. Zu unserer Geschichte und zu unserem Selbstverständnis gehörte es, eine Nachkriegs-Generation zu sein – in der (Trauma-)Therapie arbeiten wir immer wieder zu Folgen des National­sozialismus, des Holocaust und des zweiten Weltkriegs, bis in die dritte Generation. Nun sehen wir uns, wie die Spiegel-Journalistin Sophie Garbe am Tag der Invasion schrieb, in einer neuen Realität: »Putin hat heute die vermeintliche Gewissheit meiner Generation beendet, dass es keine großflächigen Angriffskriege in Europa mehr geben wird. Jetzt hoffe ich nur noch: Dass die EU auf eine Gewalt, die ans Gestern erinnert, eine gegenwärtige Antwort findet.«

… und unser langsames Ankommen in einer neuen Realität 

Einerseits fragen wir uns jetzt, im Nachhinein, wie wir angesichts all der Anzeichen für diese Invasion noch immer darauf hoffen konnten, dass die Diplomatie Erfolge erzielen würde. Doch so beschämend es sich jetzt anfühlt, dass wir uns derart getäuscht haben und von Putin täuschen ließen – noch am 18.02. beschrieb der Spiegel in einer umfassenden Analyse Was jetzt für eine Eskalation spricht – und was dagegen:…Während die USA eine Invasion in den nächsten Tagen für möglich halten, sind europäische Sicherheitsexperten zurückhaltender. Es könne sich auch um eine klassische »russische Militärtäuschung«, Maskirovka genannt, handeln (…) Ziel dieser seit dem 20. Jahrhundert zum russischen Repertoire gehörenden Taktik ist es, den Gegner im Unklaren über die wahren Intentionen zu lassen. Unter Analysten gilt der russische Präsident als Meister darin: »Putin hat die Unberechenbarkeit zur Kon­stante in seinem Handeln gemacht«, sagt ein ranghoher Beamter.“ Inzwischen ist Putins Unberechenbarkeit bedrohlicher denn je.

Noch am 10.02. widmet sich Klaus Wiegrefe der Frage: Hat Putin (bezüglich der Nato-Osterweiterung) recht? – „Der damalige Kreml-Herrscher Michail Gorbatschow versprach, die Demokratie einzuführen, die Menschenrechte zu achten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu respektieren; Gorbatschow brachte sogar die Idee ins Spiel, die Sowjetunion könnte der Nato beitreten. Das Imperium im Osten schien reformfähig. Und so wollten Kohl, Genscher und andere westliche Politiker die Nato wirklich ändern, zu einem politischen Bündnis formen und die Interessen des Kremls ernst nehmen. Zu einem Konflikt über eine Nato-Osterweiterung sollte es eigentlich nie kommen.“

Nun befinden wir uns in einer von Putin neu geschaffenen Realität. Anna Clauß schreibt am Abend des 24.02.: „Nicht nur das Ausmaß des russischen Angriffs hat viele überrascht. Mich hat vor allem Putins Begründung fassungslos gemacht – sie lässt das unermessliche Leid, das Krieg immer bedeutet, so sinnlos erscheinen. Es gehe darum, so Putin, die Ukraine zu »entmilitarisieren und zu entnazifizieren, Genozid zu verhindern«. Mit einer solchen, vollkommen an den Haaren herbeigezogenen Begründung kann Putin übermorgen genauso Ost-Berlin oder Chemnitz als ehemals russisch besetztes Gebiet zur Rückkehr in sein Reich auffordern.“

Bewusst wahrnehmen, bewusst informieren, bewusst kommunizieren

Wie sollen wir hier mit alledem umgehen? Wir können spenden, Solidarität zeigen mit den Menschen in der Ukraine, und auch diejenigen Menschen in Russland nicht vergessen, die trotz aller Gefahr demonstrieren – innerhalb weniger Tage nahm die russische Polizei laut Owd-Info rund 6.440 Menschen fest. Eine russischsprachige Online-Petition des Menschenrechtsaktivisten und Oppositionspolitikers Lew Ponomarjow gegen den Krieg in der Ukraine unterstützten bis Dienstagabend mehr als 1,1 Millionen Menschen.

Das Perspective Daily Team erinnert auch daran, Nachrichten bewusst zu sehen, sich gezielt zu informieren. „Um zu verstehen, was Konfliktparteien antreibt, braucht es nicht nur Breaking News und Liveblogs, sondern auch Zeit. Für Bücher, Hintergrundanalysen und Dokumentationen.“ Hier gibt es Tipps, auch zu einer literarischen Annäherung an die Ukraine. 

Diener des Volkes: Filmszenen, von der Realität überholt

Unbedingt empfehlen möchte ich daher die Serie „Diener des Volkes“ (Sluga naroda) von 2015, in der Wolodymyr Selenskyj den engagierten Geschichtslehrer Wassyl Holoborodko spielt, der mehr oder weniger zufällig zum Präsidenten der Ukraine wird. Es ist ein Jahr nach Russlands Krim-Annexion. Im Intro sieht man einen überaus sympathischen Mann durch ein sonniges, blühendes Kiew radeln, die Aktentasche baumelt am Lenker, Menschen winken ihm zu. Angesichts der momentanen katastrophalen Situation ist es berührend, zu sehen, wie der naive und idealistische Holoborodko in der Kiewer Politik zu wahrer Größe findet. Wie ihm nachts Herodot und Plutarch erscheinen, um an seinem Bett über Staatsformen zu räsonieren, wie Holoborodko einen Anruf von Angela Merkel bekommt und schon über die vermeintliche Zusage zur EU-Mitgliedschaft jubelt, wie ihm Iwan der Schreckliche im Traum erscheint, der weint und droht, nicht verstehen will, warum die Ukraine nicht von Russland befreit werden will – all das ist in der jetzigen Realität unglaublich eindrücklich zu sehen.

2019 wurde Selenskyj mit seiner realen „Diener-des-Volkes“-Partei ins Amt gewählt. Mit 73 Prozent der Stimmen, erfolgreicher sogar als sein fiktives Alter Ego Holoborodko, der in der Serie mit “nur” 67 Prozent gewonnen hatte. In den Filmszenen sehen wir ein Land im Aufschwung. Ein Land, in dem solche Filme produziert werden konnten. Ein Land, das jetzt mit jedem Tag mehr und mehr zerstört wird. Und das uns in dieser Serie nahe kommt, mit jeder einzelnen Figur – wo auch immer die realen Schauspieler:innen nun sein mögen.

Stefan Weiss schreibt am 4. März: “Den Krieg der Bilder hat der Kreml bereits verloren – darin sind sich viele westliche Beobachter des russischen Einmarschs in die Ukraine einig. Da ist einerseits ein entrückt wirkender, bald 70-jähriger Wladimir Putin, aufgedunsen, despotisch, die Mimik gefroren, steif in Anzug und Krawatte inszeniert an überlangen Besprechungstafeln oder am schnöden Schreibtisch mit zwei 80er-Jahre-Telefonapparaten (…) Und da ist Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, der, seitdem sein Land unter Beschuss steht, den Anzug gegen das olivgrüne Military-Shirt getauscht hat und als 44-jähriger Familienvater und oberster Verteidiger der Freiheit seines Landes den Machismo Putins ganz schön alt aussehen lässt (…)”

In “Diener des Volkes” gibt es im Kreml am Ende tatsächlich einen Machtwechsel. Mehr noch als Panzer sind es solche Erzählungen, die die Geschichte prägen, betonte unlängst der israelische Historiker Yuval Noah Harari. Putin werde diese Schlacht wohl gewinnen, meint er, aber den Krieg um eine eigenständige ukrainische Nation werde er verlieren.”